Mit einem breiten Grinsen und Speichelansammlungen in den Mundwinkeln nehme ich die zwei gut gefüllten Brotfladen entgegen, die mir der nette Verkäufer entgegenhält. Leider muss ich einen an meinen Kollegen abgeben, der mit mir in die Mittagspause gegangen ist.
Anton ist ein Urgestein bei uns. Als ich vor fast 30 Jahren meinen Einstand in der Firma hatte, war er schon da. Während wir den Ku‘damm hinunter flanieren, erinnere ich mich daran, dass wir bereits damals, an meinem ersten Tag, gemeinsam fürstlich gespeist hatten…
„Anton, weißt du noch, wie wir damals an der Tanke gegessen haben?“
„An deinem ersten Tag? Dein Benzin war leer und wir mussten einen Kanister kaufen. Ich bin dann zu spät nach Hause gekommen und habe das Finale der vierten Staffel von Star Trek: The Next Generation verpasst.“ …Unangenehmes Detail, warum erinnert er sich noch daran?
„War eh nur ein Cliffhanger“, sage ich, gebe ihm aber keine Chance etwas zu entgegnen: „Ist aber auch eigentlich egal. Worauf ich hinauswollte, ist Folgendes: Damals gab es doch noch diese Tankstellen-Mikrowellen-Burger (TMB), die fertig heiß aus dem Automaten kamen.“
„Ach, ja. Das ist aber wirklich eine Zeitreise. Ich glaube, meine Kinder kennen das gar nicht mehr.“
Da hat er Recht. Diese Automaten haben die 90er nicht überlebt.
Nachdenklich nehme ich einen Bissen von meinem Mittagessen. Noch bevor ich geschluckt habe, wedele ich mit meinem Döner vor Antons Gesicht herum. Er schaut mich verwirrt an.
Endlich bin ich fertig mit Kauen und kann wieder Sprechen: „Döner gab es damals doch auch schon, oder?“
„Natürlich. Es gab schon immer Döner“, behauptet Anton mit der inbrünstigen Überzeugung eines Achtjährigen, der mir erzählt, dass er Astronaut werden wird. Dabei ist er Software-Entwickler.
„Nein, unseren geliebten Berlin-Döner gibt es so erst seit den 70ern. Die Frage stellt sich also: Warum hat der Döner so lange überlebt, während sich die TMBs kein Jahrzehnt gehalten haben?“
Anton denkt keine Sekunde nach: „Microservices“, sagt er.
„… Was?“, frage ich, perplex.
„Microservices!“, wiederholt er und zeigt mit einer energischen Geste auf seinen Döner.
Kann jemand mitten im Gespräch überschnappen? „Du redest wirr.“
Anton schüttelt den Kopf. „Es ist ganz einfach: stell dir vor, du kaufst so einen TMB. Was ist da drauf?“
„Hm, im Idealfall eine schlichte Kombination“, antworte ich, „Fleisch und Käse würde ich gerne nehmen.“
„Hm, es gibt aber nur den Fleisch-Käse-Zwiebel TMB.“
„Ich mag aber keine Zwiebeln…“. Anton stürzt sich auf diese Aussage wie ein hungriger Löwe:
„Tja, Pech gehabt! Dem TMB fehlt nämlich die Flexibilität von Microservices. Es gibt nur Fleisch-Käse-Zwiebel – oder gar nichts!“, er hält seinen Fladen hoch, ohne zu bemerken, dass seine Knoblauchsoße auf den Boden tropft, „Beim Döner hingegen sieht das anders aus.“ Mit einem Triumphgesicht nimmt er einen großzügigen Bissen und schaut mich herausfordernd an.
„Was für ein Schwachsinn. Willst du Döner und TMBs etwa mit Software vergleichen?“
Anton nickt leicht beleidigt. „Exakt. Schau mal: TMBs repräsentieren klassisch entwickelte Software. Sie sind vorgefertigte Produkte, die so nur in den Tankstellenautomaten bzw. den Zielsystemen funktionieren. Man kann sie nicht ohne die Automaten verwenden und man kann sie nicht untereinander kombinieren, um beispielsweise aus einem Gurken-Zwiebel-TMB und einem Fleisch-Käse-TMB einen Fleisch-Käse-Zwiebel-TMB zu machen. Man kann sie auch nicht auf ihre Bestandteile runterbrechen, weil man gerade zum Beispiel nur das Burgerbrot braucht.“ Jetzt hält er seinen halb gegessenen Döner hoch und sieht mit seinem begeisterten Gesichtsausdruck irgendwie lustig aus: „Der Döner hingegen ist eine moderne Software. Cloud-native entwickelt und somit theoretisch für jedes System verfügbar. Warum? Weil er konfigurierbar ist. Microservices! Du möchtest Knoblauchsoße anstatt Joghurtsoße? Microservices! Du magst keine Zwiebeln? Kommen weg: Microservices! Du möchtest Schafskäse und eine Extra-Portion Fleisch dazu, aber bitte vom Kalb und nicht Geflügel? Microservices macht das möglich! Der Bau des Döners ist frei konfigurierbar – genau wie cloud-native entwickelte Programme.“
Verdammt, der Vergleich funktioniert tatsächlich. „Der TMB wäre in dieser Metapher also eine monolithische Software in einem starren Laufzeitsystem, dem Automaten, während der Döner eine cloud-basierte Anwendung ist, auf die jedes System zugreifen kann… Der Verkäufer oder die Verkäuferin übernimmt die Orchestrierung… geht das noch weiter?“
„Selbstverständlich“, Anton hebt einen mahnenden Zeigefinger, „die TMBs funktionieren quasi auf planwirtschaftlicher Basis. Irgendwer entscheidet in regelmäßigen Abständen, wie viele TMBs von welchen Sorten die Tankstelle für den nächsten Turnus benötigt, basierend auf den Zahlen der letzten Monate. Genau so viele TMBs hat die Tanke dann. Das Problem haben die armen Tankstellenmitarbeiter, bei denen sich die Kunden beschweren, dass der Fleisch-Käse-Zwiebel-TMB schon wieder neun Tage vor der nächsten Lieferung ausverkauft ist.“
Ich nicke und betrachte die Menschenmengen, die um das KaDeWe herumwuseln.
„Anders ist es mit dem Dönerladen“, fährt Anton fort, „Hier sitzen die Entscheider nicht in der Landesgeschäftsstelle, sondern stehen direkt hinter der Verkaufstheke. Jeder Döner wird unter ihrer Nase weitergereicht, und jeder Container“, Anton zwinkert, um die Doppeldeutigkeit zu unterstreichen, „der leer zu werden droht, wird unter ihrem kritischen Blick leerer. Sie können ihn sofort nachfüllen; und wenn das Lager ebenfalls leer zu werden droht, können sie es flexibel auffüllen. Wenn dann im nächsten Monat erstaunlich wenige Kunden Schafskäse auf ihre Döner wollen, kaufen sie eben weniger Schafskäse, während die Schafskäse-TMBs weggeschmissen werden müssen, wenn sie verfallen. Um den Bogen zurück zur Cloud-native Entwicklung zu schlagen: Döner sind skalierbar, TMBs nicht.“
Zunehmend erregt erzählt Anton weiter: „Es geht sogar noch weiter! Stell dir vor, der TMB-Automat ist kaputt, weil bspw. die Bedienelemente nicht mehr reagieren. Jetzt kriegst du keinen Fleisch-Käse-Zwiebel TMB, selbst wenn er noch vorrätig ist. Ein Fehler im System, und das ganze System liegt flach, bis der Fehler behoben wird.
In der Cloud-native Welt des Döners ist das nicht der Fall: wenn trotz aller Skalierbarkeit tatsächlich mal das Brot zur Neige geht, ist das zwar ein herber Rückschlag; aber Döner sind lean: Dönerboxen oder Dönerteller können immer noch verkauft werden…“
Langsam kommt er in Rage: „Apropos alternative Verkaufsmöglichkeiten: hast du schon einmal vom Fisch-Döner gehört? Hat (noch?) nicht jeder Laden. Wenn du als Fisch-Döner-Enthusiast in einen neuen Laden gehst und siehst: Fisch-Döner ist nicht auf der Karte… Du könntest umdrehen und gehen; oder du fragst nach, ob der Fisch-Döner spontan bereitet werden kann. Vor 60 Sekunden hatte der Verkäufer noch nie von Fisch-Dönern gehört, jetzt hast du einen in der Hand. Versuch einmal, diese Time-to-Market bei einem TMB hinzukriegen… Zugegeben, ab hier wird die Metapher etwas löchrig.“
Ich betrachte meinen Dönerrest aus einer vollkommen neuen Perspektive. Nachdenklich entgegne ich: „Aber Anton. Es werden immer noch Programme in monolithischen Systemen programmiert. Nicht alle werden cloud-native entwickelt.“
„Das ist richtig. Wie gesagt, die Metapher lässt sich nicht immer 1-zu-1 übertragen. Doch bedenke: TMBs und Döner haben auch eine Dekade koexistiert. Aber am Ende haben die Döner gewonnen. Die Welt ist in stetigem Wandel begriffen, und nur, was sich anpassen kann, überlebt.“
„Wohl wahr“, endlich kann meine Dönerexpertise scheinen, „selbst Döner sind nicht mehr dieselben plumpen Fladen von damals. Yufka, Lahmacun, Pide gehören in ein Dönersortiment fest dazu. Und natürlich die Anpassung an den Wandel der Zeit mit Vöner oder innovativen Versuchen wie dem Cheebab. Selbst die Idee, überhaupt etwas anderes als Fleisch und Soße im Brot zu haben, kam erst nach einiger Zeit.“
„So ist es“, sagt Anton, als wir schließlich an unserem Bürogebäude ankommen, „das Dönerfleisch wurde ursprünglich horizontal gedreht und auf dem Teller gegessen, damals Hammelfleisch. Die deutsche Innovation war die Mitnehm- bzw. Fast Food-Variante im Brot. Der Döner hat eine lange Geschichte hinter sich und ist weit gekommen. Dennoch wird er sich auch in Zukunft weiterentwickeln müssen, um relevant zu bleiben…“
„…so wie cloud-native Entwicklung die klassische ablösen wird, sozusagen als nächster Schritt der Evolution?“. Wir betreten den Aufzug und drücken die Zehn. Langsam schließen sich die Türen.
„Es ist noch etwas zu früh, um das als Fakt zu präsentieren“, meint Anton, während der Aufzug Fahrt aufnimmt, „Aber wenn du mich fragst: Ja!“
Autoren:
Tobias Döbber, Manager IT-Consulting
Stefan Vocke, Manager IT-Consulting